Irmgard 1920-2012

Viel ist passiert seit dem letzten Eintrag. Wunderschönes (unser erster richtiger, gemeinsamer Urlaub) und Schlimmes (mein Herzinfarkt). Eine Berg- und Talfahrt der Gefühle verdichtete sich zum Jahresende und ließ keine Zeit für Nebensächlichkeiten. Ich hatte geglaubt, der Urlaub hätte mich total entspannt. Völlig harmonisch hatten wir zwei Verliebten die Tage genossen. Dazu ein lange erhoffter Immobilien-Verkauf, der ebenso zur Entspannung zu trug. Aber der Mensch tracht und Gott lacht (wie ein jüdisches Sprichwort sagt). Es hat mich umgehauen. Von Hundert auf fast Null in ein paar Minuten.

Meiner Mutter hatten wir es nicht erzählt. Angelogen hab ich sie ein bisschen: Ich läge im Krankenhaus wegen meines lädierten Knies (was ja auch z.T. zutraf). Sie war in den letzten Jahren immer dementer geworden und manche Neuigkeiten haben sie verwirrt und verängstigt. Da fanden wir es besser, ihr den Infarkt zu verschweigen. Der Reha-Aufenthalt verhinderte ein gemeinsames Weihnachtsfest, auf dass sie sich so gefreut hatte. Nun freute sie sich auf ihren 92. Geburtstag. Und bekam kurz vorher ebenso einen Infarkt. Ich habe sie noch im Krankenhaus besucht, Sie war geschwächt, das Herz nicht mehr kraftvoll genug. Und doch saß sie in ihrem Bett und war guter Dinge. Zwar begrüßte sie uns mit einem bestimmten „Mit mir geht’s zuende!“. Aber das beunruhigte sie nicht. Im Gegenteil, sie schien bereit. Sie erzählte von früher und betonte immer wieder, was für ein glückliches Leben sie hatte. Sie war fröhlich und verabschiedete uns mit einem Lachen. Vier Tage darauf ist sie ganz friedlich eingeschlafen.

Trauerfeier am 3. Februar 2012

Sie hatte sich ihr Leben aussuchen können, hatte den richtigen Mann gefunden und sich ihm, wie das damals üblich war, untergeordnet. War für ihre Familie da, versorgte uns liebevoll, kochte genial, war gesellig und fröhlich, neugierig und weltoffen, tolerant und offen. Sie war eine moderne Oma und manchmal Mutterersatz für meine halbwaisen Kids. Bis ins hohe Alter konnte man sich über alles mit ihr unterhalten. Und sie war eine Dame, modisch und geschmackvoll gekleidet. Eine Mutter, wie man sie sich nur wünschen kann. Nun müssen wir ohne sie auskommen. Sie fehlt uns und doch sind wir froh, dass sie so leicht von dieser Erde gehen konnte. Ich wünschte, wir könnten einmal so glücklich gehen.

Happy birthday, Greatest!

13 war ich, bin um 4 Uhr aufgestanden, hab mich aus dem Haus geschlichen und bin mit dem Fahrrad zur nahen Rennbahn in Frankfurt-Niederrad gefahren. Muhammad Ali sollte dort trainieren für seinen Weltmeisterschaftskampf gegen Karl Mildenberger am 10.9.1966. Es war lausig kalt und niemand zu sehen. Enttäuscht wollte ich schon wieder fahren, als ich am Horizont drei oder vier Menschen sah, die dort auf der Pferderennbahn entlang rannten. Schnell kamen sie näher, Dampfwölkchen vor den Gesichtern. Alle hatten Kapuzen-Sweater an und ich konnte nicht erkennen, wer Ali war.

Ich hatte einen Freund dabei und wir waren die einzigen Zuschauer. Ali sah uns und kam auf uns zu getrabt. Seine Begleiter blieben, wo sie waren. Heute undenkbar! Ich hatte alle meine Englischkenntnisse zusammengesucht für einen Spruch. Ali sprach mich an. Ich verstand kein Wort und verfluchte mich, dass ich in der Schule nicht besser gewesen war. Ich kramte einen Zettel raus und einen Kuli, reichte ihn schüchtern dem Größten und brachte immerhin ein „P-p-p-please!“ raus. Ali lachte, rief irgend etwas seinen Begleitern zu. Die lachten auch und wir kamen uns unglaublich blöd vor.

Zum Abschied tätschelte Ali meinen Kopf, rief noch was wie „… boy!“ oder „bye!“ und entschwand mit seinen Jungs im Morgennebel. Wir zitterten, ob vor Kälte oder Ergriffenheit, ich weiß es nicht mehr. Stumm fuhren wir Heim. Wir konnten es selber nicht glauben: Wir hatten den Größten getroffen! Den Zettel mit seiner Unterschrift habe ich immer noch.